Leben in der Stadt der Zukunft

Quo vadis, Stadtleben?

von Dieter Westerkamp

Städte sind komplexe Systeme. Der Wunsch der Bürger nach intakten Verkehrssystemen, bezahlbarem Wohnraum sowie einer funktionierenden Wasser-, Energie- und Nahrungsversorgung trifft auf Herausforderungen wie den Klimawandel, Migrationsströme und demografische Veränderungen. Die Bandbreite der Lösungsansätze ist dementsprechend groß und reicht von der lokalen und regionalen Subsis­tenzwirtschaft mit angepassten Technologien bis hin zu technologisch hoch entwickelten Stadt- und Infrastruktursystemen.

Seit 2009 lebt mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung in Städten. Im Jahr 2050 werden es voraussichtlich mehr als zwei Drittel sein. Dieser Trend ist in Deutschland bereits deutlich spürbar: 74 Prozent der Deutschen wohnen in urbanen Ballungsräumen. In Deutschland wie auch weltweit werden daher Strategien und Maßnahmen der Städte eine Schlüsselrolle spielen, um diese globalen und umweltpolitischen Herausforderungen zu bewältigen.

Die Trends zum Nachdenken über die Stadt der Zukunft wurden Ende der 1990er-Jahre mit dem Begriff „Smart City“ geprägt. Seit den letzten zehn Jahren finden sich in den Medien ebenfalls Begriffe wie „Zukunftsstadt“, „Morgenstadt“, „Stadt der Zukunft“, „Smart Regions“ usw. Rund um den Globus sind viele Initiativen entstanden, denen allen dasselbe Erfordernis zugrunde liegt: die Notwendigkeit zu einer ökologisch nachhaltigen Lebensform in urbanen und ländlichen Gegenden angesichts des menschlichen Ressourcenverbrauchs. Je nach Perspektive und Interessen werden dafür unterschiedliche Ansätze vorgebracht. Diese reichen vom Einsatz der Hochtechnologie bis hin zu fundamentaler Änderung der Gesellschafts- und Wirtschaftsstruktur.

Gleichzeitig erfordert die im Ballungsraum unvermeidbare Nähe von Produktion und Wohnen neue Konzepte zur Vereinbarkeit von vorhandenen Industrie­standorten und Wohngebieten sowie die Möglichkeit der Schaffung neuer (oder geänderter) Produktionsstandorte in Ballungsräumen bzw. stadtnahem Umfeld.

Da sich Städte hinsichtlich ihrer Größe und Dichte sowie klimatischen, geografischen, sozioökonomischen und kulturellen Bedingungen unterscheiden, sind angepasste Konzepte und Planungsprozesse unabdingbar. Allen gemein sollte allerdings ein ganzheitlicher Ansatz sein, der die Stadtentwicklung als eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe unter Beteiligung aller betroffenen Stadtbewohner betrachtet.

Die Stadt der Zukunft erfordert das Denken in Systemen und Alternativen unter teilweise schwierigen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen.

Dieter Westerkamp

Die Stadt der Zukunft erfordert das Denken in Systemen und Alternativen unter teilweise schwierigen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Für die Entwicklung nachhaltiger Lösungen für die Städte von morgen ist sowohl das interdisziplinäre Arbeiten als auch die Beteiligung von Stakeholdern bereits bei der Konzeption der Prozesse zwingend notwendig. Bei der Vernetzung, dem Monitoring und der Optimierung städtischer Infrastrukturen nimmt die Informations- und Kommunikationstechnologie eine Schlüsselrolle ein und ermöglicht zudem neue Geschäftsmodelle. Welche Handlungsfelder für die zukunftstaugliche Stadt relevant sind, zeigt die VDI-Initiative Stadt:Denken auf.

Künstliche Intelligenz in der Stadt

Die digitale Transformation in der Stadt zeigt Wirkungen in mehreren Bereichen. So soll sie zum Beispiel im städtischen Verwaltungsapparat Behördengänge ersparen, Entscheidungsprozesse in der Städteplanung transparenter machen und die Teilhabe daran ermöglichen. Ebenfalls soll sie die Bereiche Mobilität, den Energie- und Ressourceneinsatz und übergreifend die Nachhaltigkeit optimieren. Dies geschieht vor allem durch den Einsatz von künstlicher Intelligenz (KI). Sie ist ein nächster Schritt im Rahmen der digitalen Transformation. Auf Basis von vielen Sensoren wird zunächst eine Reihe von Daten erhoben. Mithilfe von Big-Data-Analysen und der künstlichen Intelligenz können die zur Verfügung stehenden Daten miteinander verknüpft, analysiert und gegebenenfalls für Assistenzfunktionen oder Entscheidungsvorbereitungen genutzt werden.

Über Datenaustausch zwischen bisher unverbundenen Systemen soll der Einsatz von KI nicht nur eine Optimierung der bisherigen Prozesse erzielen, sondern auch ganz neue Handlungsstränge aufzeigen. Dabei ist eine Zusammenarbeit von Stadtverwaltungen mit Hochschulen und Technologiezentren mit­entscheidend für den Know-how-Aufbau. Letztere können die Städte dabei unterstützen, die Daten, die sie generieren, zu interpretieren und ihren Wert für neue Prozesse zu erkennen. In der Praxis ermöglichen dann beispielsweise Sensorsysteme die intelligente Verkehrssteuerung oder die Anzeige der Füllstände von Müllcontainern, was vor allem für kommunale und private Unternehmen und Betriebe der urbanen Dienstleistung, Logistik und Produktion attraktiv ist.

Im VDI wurde im Frühjahr 2019 eine Umfrage unter VDI-Mitgliedern zur möglichen Nutzung von KI durchgeführt. Bezogen auf Anwendungen außerhalb der Industrie ergibt sich das Bild der unten aufgeführten Grafik.

VDI-Umfrage zur Hannover Messe 2019: Welches Potenzial sehen Sie in den folgenden Bereichen (außerhalb der industriellen Produktion)? (Aufgeführt sind nur die sieben meistgenannten Antworten. Quelle: VDI)

Themen, die originär in Städten eine große Rolle spielen, schätzen die Befragten am erfolgreichsten ein, vor allem Verkehrsthemen wie automatisiertes Fahren oder Verkehrsverflüssigung. Auch die allgemeine Entlastung von Menschen bei bestimmten Tätigkeiten, die in wesentlichen Teilen von Algorithmen übernommen werden können, wird eine Reihe von Anwendungen in Städten finden. Gerade im Verwaltungsapparat von Städten und Kommunen ist damit zu rechnen, dass sich mithilfe von künstlicher Intelligenz viele Tätigkeitsprofile sehr stark verändern werden.

Heute wird bereits auch in Deutschland von der „Smart City“ gesprochen, wenn gesamtheitliche Entwicklungskonzepte betrachtet werden, die Städte effizienter, technologisch fortschrittlicher, grüner und sozial inklusiver gestalten. Diese Konzepte beinhalten technische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Innovationen.

Was die Anwendung von Algorithmen in der Stadt betrifft, so liegt Europa derzeit zwischen zwei Extremen – den USA und China. Auf der einen Seite herrscht das Credo Algorithmen statt Gesetze (USA), auf der anderen Seite eine staatliche Datenkontrolle im Sinne von ‚Big Brother‘ (China).

Dieter Westerkamp

Erste Städte beschäftigen sich konkret mit der Fragestellung, wie sie KI für sich nutzen können. So will beispielsweise Ingolstadt an der heimischen Hochschule eine Professur „Nachhaltige Stadtentwicklung, Infrastruktur- und Verkehrsplanung“ stiften, die sich der KI-Forschung und ihrer Erprobung im Alltag widmen soll. Ein weiteres Beispiel ist die Stadt Aachen. Sie hat 2018 eine vielseitige Digitalstrategie entwickelt, deren erste Ziele bereits im Jahre 2020 erreicht werden sollen. Das digitale Gewerbeamt, die digitale Aktenführung in allen relevanten Bereichen und die Entwicklung digitaler Mobilitätskonzepte stehen für das kommende Jahr auf der Agenda der Stadt.

Schon Realität: Ein Blick nach China

Für Tendenzen bzw. visionäre Ausblicke lohnt es sich, einen Blick nach China zu wagen. Im Oktober 2016 begann die chinesische Stadt Hangzhou mit den beiden Technologie-Unter­nehmen Alibaba und Foxconn das „City Brain“-Projekt. Die Idee war, die Metropole durch Systeme mit künstlicher Intelligenz zu führen.

Dafür wurden von allen Einwohnern Daten gesammelt, z. B. Einkäufe, Bewegungsprofile, Aktivitäten in sozialen Medien. Diese wurden anschließend in einer zentralen Datenbank verknüpft und für Funktionen ausgewertet. Kameras beobachten beispielsweise den Verkehrsfluss und können so fast jedes Auto auf der Straße verfolgen. So kann KI sofort Unfälle, Staus oder Falschparker erkennen und die Polizei darüber informieren. Es ist sogar möglich, den Verkehr zehn Minuten in die Zukunft mit einer Genauigkeit von 90 Prozent vorherzusagen und Ampelschaltungen dementsprechend anzupassen oder den Fahrern Nachrichten mit alternativen Routen zuzusenden.

Dieter Westerkamp (geb. 1965) studierte Elektrotechnik an der Universität Hannover und begann seine berufliche Laufbahn mit einem Traineeprogramm in der Industrie.

In Hangzhou gibt es seit Einführung des Projekts weniger Staus, Verkehrsunfälle werden automatisch erkannt und Notrufe schneller beantwortet. Falschparker werden in Echtzeit erkannt und wenn jemand das Gesetz bricht, kann er in der ganzen Stadt verfolgt werden, bevor die Polizei eingreift.

Was die Anwendung von Algorithmen in der Stadt betrifft, so liegt Europa derzeit zwischen zwei Extremen – den USA und China. Auf der einen Seite herrscht das Credo Algorithmen statt Gesetze (USA), auf der anderen Seite eine staatliche Datenkontrolle im Sinne von „Big Brother“ (China). Beides sind Positionen, die mit einem europäischen Wertekanon nicht vereinbar sind. In Europa sind unbedingt Anstrengungen nötig, um sich auf die digitale Transformation vorzubereiten. Aber die Anpassung und damit Erschließung neuer Geschäftsmodelle funktioniert auch, ohne die jetzigen Trends zu kopieren und die Privat­sphäre des Einzelnen zu untergraben.

Europa kann und muss seine eigene Antwort auf die digitale Transformation finden und einen weiteren, dritten Weg der Transformation aufzeigen. Das sorgt für mehr Wettbewerb, vor allem um die dringend benötigten Fachkräfte. Parallel dazu wird es wichtig sein, die notwendigen Daten auch tatsächlich zur Verfügung zu haben, beispielsweise für die Nutzung im Be­reich der Gesundheit: Je mehr Daten (z. B. Bilder mitsamt Diagnose) Medizinern frei zur Verfügung stehen, umso leichter lassen sie sich auf neue Fälle anwenden. Jeder Patient ist aufgefordert, sich zukünftig mit der Frage zu beschäftigen, seine Daten anonymisiert freizugeben. Erfahrungen mit der Auswertung von Massendaten im Bereich der Städte liegen in China bereits vor. So können in China schon heute bis zu 50 Millionen Fahrten von Leihfahrrädern im Hinblick auf diverse Anwendungen täglich ausgewertet werden.

Mit der Anwendung von KI an kleinen Beispielen muss der Gesellschaft gezeigt werden, welche Vorteile die Nutzung von KI tatsächlich bringt – gerade für den Menschen und damit auch für die Gesellschaft. Erfolge der Nutzung von künstlicher Intelligenz müssen kommuniziert werden. Dialoge mit der Gesellschaft müssen geführt werden, um die Anwendung von KI-Technologien in der Stadt vorzubereiten und zu begleiten. So fordert es auch die KI-Strategie der Bundesregierung vom November 2018 (Kapitel 3.12, [83]).

Smart Cities sind noch Insellösungen in Deutschland

Die Möglichkeiten der Anwendung von künstlicher Intelligenz in Städten und Kommunen sind sehr vielfältig – in Deutschland jedoch kaum verbreitet. Die Entwicklung der Stadt zur „Smart City“ ist insgesamt ein langwieriger Prozess. Entsprechende Entscheidungen und Investitionen sind noch zu tätigen, damit Städte über gemessene Daten verfügen dürfen und können. Darüber hinaus existieren vielerorts Bedenken gegenüber technologischen Neuheiten und der damit verbundenen Veränderung von Arbeitsinhalten. Bisherige Modellversuche wurden durchweg nur insular in Städten realisiert, was ganz offensichtlich im Gegensatz zu dem steht, wofür die derzeitigen Technologien wie Cloud Computing, Big Data und KI ausgelegt sind.

Darmstadtium: Darmstadt gilt als eine der wenigen Smart Cities in Deutschland Quelle: Bild von lapping auf Pixabay

Ein Beispiel dafür ist Darmstadt: Mit einem intelligenten Ampelsystem entlastet die rund 155 000 Einwohner große Stadt auf einer Teststrecke für Ampel-Grün-Phasen die Verkehrsinfrastruktur. Darüber hinaus soll der Parksuchverkehr reduziert werden, indem eine App über freie Parkplätze informiert. Denkbar sind außerdem Lösungen, die die aktuelle Verkehrssituation den Navigationssystemen in Fahrzeugen zur Verfügung stellen und anhand dessen Empfehlungen geben, P+R-Parkplätze anzufahren und auf öffentliche Verkehrsmittel umzusteigen.

Wichtig bei der Realisierung von Maßnahmen für die Stadt der Zukunft ist, dass eine mögliche Überforderung der bestehenden Stadtstrukturen vermieden wird: Neue Verwaltungsformen, smartes Wohnen, Elektromobile, Smart Grid, E-Government müssen dringend detailliert aufeinander abgestimmt sein. Die Insellösungen sind oftmals der Struktur der aktuellen Förderprogramme (EU und national) geschuldet. Die komplexe Fördersituation ist auch ein Grund dafür, warum viele Smart-City-Projekte nach der Förderperiode im Sande verlaufen. Die Förderprogramme zur Entwicklung und Umsetzung von Smart-City-Konzepten können bis zu sieben Jahre Zeit einnehmen. Dabei wird es in Zukunft essenziell sein, dass Städte in der Lage sind, ihre Weiterentwicklungen der digitalen Transformation aus eigenen Mitteln zu bezahlen, und nicht von Förderprogrammen abhängig bleiben.

Durch aktive Bürgerbeteiligung zu mehr Akzeptanz für die Stadt von morgen

Bei der Städteplanung von morgen ist es unbedingt notwendig, dass der Nutzen der digitalen Transformation für den Menschen verständlich und sichtbar ist. Es steht außer Frage, dass die digitale Transformation mittelbare und tiefgreifende Veränderungen unserer Arbeitswelt und damit auch der Städte mit sich bringt. Wichtig ist hierbei, diese Prozesse chancenorientiert anzugehen und nicht als Bedrohung zu sehen. Städte, die sich heute schon mit der Erschließung neuer digitaler Geschäftsmodelle befassen, dürften in der sich ändernden Arbeitswelt einen merklichen Vorsprung gegenüber den Städten haben, die das nicht tun.

Wenn Bürger aktiv die Städte mitentwickeln, führt dies zu mehr Akzeptanz und Identifikation mit der direkten Stadtumgebung und stärkt vor allem den sozialen Zusammenhalt. Die Neuplanung von Städten und Stadtteilen vor dem Hintergrund der digitalen Transformation muss darüber hinaus ebenfalls den Bedürfnissen einer älter werdenden Gesellschaft Rechnung tragen. Daher spielt die Einbeziehung der Bürger hierbei eine wichtige Rolle. Initiativen wie Nachbarschaftsagenturen, Stadtteilläden, Café- und Begegnungsangebote können hierfür ein gutes Hilfsangebot zur Bürgerbeteiligung sein. //

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