Vor der künstlichen ist erst die menschliche Intelligenz gefragt

KI-Projekte sind keine Selbstläufer – das Potenzial ist aber groß.

von Prof. Dr. Volker Gruhn

Mediziner und Taxifahrer, Investmentbanker und Callcenter-Mitarbeiter, Sachbearbeiter und Analysten. Auf den ersten Blick haben diese Berufe nicht viel miteinander gemein. Dahinter stehen unterschiedliche Ausbildungen und Aufgabenbereiche. Aber eins haben sie gemeinsam: Diese Berufsbilder führen Fachleute als Beispiele für das Veränderungspotenzial an, das künstliche Intelligenz (KI) eröffnet.

Dahinter steckt die Idee, dass Algorithmen auf Basis großer Datenmengen Muster erkennen und eigenständig lernen. Entsprechende KI-Lösungen identifizieren Krankheiten auf Röntgenbildern. Sie steuern Autos durch den Berufsverkehr und erkennen vielversprechende Aktien. Oder sie unterhalten sich mit Kunden.

Prof. Dr. Volker Gruhn (Bildquelle / Copyright: Julia Hermann)

Der Blick in die Medien lässt den Eindruck entstehen, dass diese Jobs in wenigen Jahren eine künstliche Intelligenz übernimmt. Die neuen Systeme erledigen Aufgaben besser, schneller und günstiger. Sie kennen keine Müdigkeit, übersehen nichts und ihre Gedanken sind nie beim letzten Bundesligaspieltag. Gestern Schach, heute Go, morgen der ganze Rest: Die Erfolgsgeschichte von KI scheint bereits festzustehen. KI kann vieles und wird bald fast alles können – das ist der Tenor vieler Berichte.

Zwei Aspekte fallen dabei unter den Tisch. Einerseits sind es nur selten komplette Aufgabenprofile, die sich für die Digitalisierung durch KI-Anwendungen eignen. Ein Pflegeroboter mag in einem Krankenhaus eines Tages jeden Handgriff optimal beherrschen. Aber er wird keine aufrichtig aufmunternden Worte für den Patienten finden, mit Angehörigen reden und den Genesungsprozess durch ein Lächeln unterstützen. Zwischenmenschliches ist und bleibt – das Wort sagt es bereits – dem Menschen vorbehalten.

Andererseits ist KI in der öffentlichen Wahrnehmung inzwischen vom Nimbus des Magischen umgeben. Aber: Es sind keine Magier, die erfolgreiche KI-Anwendungen in den Zauberlaboren von Hogwarts heraufbeschwören. Es sind Experten, die ein detailliertes Verständnis für die Anforderungen der eigenen Branche und Kunden mitbringen. Es sind Projektbeteiligte aus Fach- und IT-Abteilungen, die kenntnisreich über Technologien und Möglichkeiten diskutieren. Es sind Verantwortliche, die dank einer umsichtigen Planung frühzeitig erkennen, ob sich die vorhandenen Daten überhaupt für den Einsatz von KI-Technologien eignen.

Den Verantwortlichen sollte klar sein, dass bei datengetriebenen
Anwendungen der Entwicklungs- auch ein Entdeckungsprozess
ist. Mit dieser Offenheit im Kopf und einem
planvollen Vorgehen in der Tasche ist der Weg in Richtung
KI-Zukunft einfacher zu gehen.

Kurzum: KI-Anwendungen entwickeln sich nicht von selbst. Sie sind das Ergebnis von sauber auf- und umgesetzten Projekten. All die – in großen Teilen berechtigte – Euphorie um die Potenziale von KI darf den Blick darauf nicht verstellen. Auch solche Systeme müssen Experten entwickeln, bauen, testen, implementieren und anpassen. Damit künstliche Intelligenz funktioniert, müssen wir Menschen weiter unsere eigenen Köpfe anstrengen.

Nach Daten drängt, an Daten hängt doch alles

Die Fachwelt ist weit von einer einheitlichen Definition von KI entfernt. Für die folgenden Ausführungen reicht es aus, KI von klassischen Informationssystemen abzugrenzen: Während Experten Letztere auf Basis von regelbasiertem Wissen entwickeln, spielen bei Ersteren Daten die entscheidende Rolle. Ob gespeicherte oder Laufzeitdaten, interne oder externe, reale oder simulierte: KI-Anwendungen sind datengetrieben. Sie erkennen Muster, Zusammenhänge oder Anomalien. Diese Fähigkeiten sind die Grundlage für neue Anwendungen, andere Geschäftsmodelle oder verbesserte Prozesse.

Der Blick in die Praxis zeigt: Fast immer ist ein klassisches Softwareprojekt der Auslöser für KI-Überlegungen. Die Beteiligten stoßen auf eine Anforderung innerhalb ihres Projektes, die auf den ersten Blick für den Einsatz einer datengetriebenen Lösung spricht. Das kann das Berechnen von Ausfallwahrscheinlichkeiten von Maschinen innerhalb eines Produktionsplanungs- und Steuerungssystems sein. Oder das automatische Zusammenstellen von Zielgruppen auf Basis von Kaufhistorie und Social-Media-Nutzung innerhalb einer Customer-Relationship-Management-Anwendung.

Regelbasierte Ansätze führen aufgrund der Vielzahl möglicher Einflussfaktoren und der Komplexität der Zusammenhänge nicht zum Erfolg. Hier spielen datengetriebene Lösungen ihre Stärken aus. Der Datengrundlage kommt eine entscheidende Rolle zu: Welche Daten sind vorhanden? In welcher Form liegen sie vor? Enthalten die Daten die zur Lösung des Problems notwendigen Informationen? Können die Projektbeteiligten fehlende beschaffen? Der Umgang mit diesen Daten erfordert ein spezielles Vorgehen – und spezielle Kompetenzen.

Kernaussagen

Es sind keine Magier, die erfolgreiche KI-Anwendungen in den Zauberlaboren von Hogwarts heraufbeschwören.

KI-Anwendungen entwickeln sich nicht von selbst. Sie sind das Ergebnis von sauber auf- und umgesetzten Projekten.

Fast immer ist ein klassisches Softwareprojekt der Auslöser für KI-Überlegungen. Die Beteiligten stoßen auf eine Anforderung innerhalb ihres Projektes, die auf den ersten Blick für den Einsatz einer datengetriebenen Lösung spricht.

Entwicklung braucht Experten

„Building AI-based Systems“ ist die Antwort auf diese Besonderheiten des KI-Entwicklungsprozesses. Dahinter verbirgt sich ein Vorgehensmodell mit Rollen, Phasen und Verantwortlichkeiten. Dieser Ansatz stellt sicher, dass die Beteiligten frühzeitig wissen, ob KI-Anwendungen überhaupt geeignet sind. Er strukturiert den gesamten Prozess und unterstützt das Team dabei, KI-Systeme in den Kontext klassischer Informationssysteme einzubinden.

Die Beteiligten bei der Entwicklung datengetriebener Anwendungen lassen sich vier Rollen zuordnen:

  • Domain Expert: Kennt die Geschäftsprozesse des Unternehmens, die Abläufe in der Branche und die Anforderungen der Anwender
  • Data Scientist: Bewandert im Umgang mit KI-Technologien, bringt Programmierkenntnisse mit und hat Erfahrung mit großen Datenmengen
  • Software Engineer: Experte für Softwareentwicklung, der über ein grundlegendes Verständnis für das Thema Data Science verfügt
  • Data Domain Expert: Bringt Wissen über Daten und Datenquellen innerhalb des Unternehmens und der Domäne mit

Jede dieser Rollen bringt unterschiedliches Know-how über Daten, Technologien, Prozesse, Domänen und das eigene Unternehmen ein. Durch die Kombination dieser Fertigkeiten entsteht ein Projektteam, das alle KI-Anforderungen abdeckt.

Gemeinsam entwickeln die Experten im Rahmen des Building-AI-based-Systems-Vorgehens die Lösung.

Der Bauplan für KI-Anwendungen

Das Vorgehensmodell unterteilt den Entwicklungsprozess in bis zu sechs Prozessschritte: von der eingehenden Prüfung der vorhandenen Daten zu Beginn über das Erarbeiten der Anforderungen und die Modellentwicklung und die Integration bis zum laufenden Betrieb. Die lineare Abfolge dient zum einfachen Visualisieren und Beschreiben. In der Projektpraxis wählen Entwicklerteams nicht den gradlinigen, sondern den passenden Weg für ihr Projekt.

Visualisierung eines Software-Engineering-Prozesses im Kontext von KI-Anwendungen

Die Anfangsphase ist für den gesamten Projektverlauf von Bedeutung. Denn das Entwickeln KI-basierter Anwendungen steht und fällt mit der vorhandenen Datengrundlage. Zunächst verschafft sich das Projektteam ein Bild von dieser Grundlage: Sind Daten vorhanden, auf denen sie eine KI-Anwendung aufbauen können? Wenn ja, von welcher Qualität sind diese? Aus welchen Quellen stammen sie? Wie sind die rechtlichen Rahmenbedingungen für die Nutzung? Mit diesen Fragen beschäftigen sich die Beteiligten zu Projektbeginn.

Die Prüfung zu Beginn stellt sicher, dass die Beteiligten das KI-Potenzial ihres Entwicklungsprojektes richtig einschätzen. Falls die Datenlage sich für KI-Ansätze nicht eignet, erkennen sie dies direkt zu Beginn – und nicht erst, wenn bereits im großen Maßstab Ressourcen in das Projekt geflossen sind.

Oft muss das Projektteam die notwendigen Daten erst beschaffen und aufbereiten. Anschließend lernen die Projektmitglieder ein Modell auf der Basis von Trainingsdaten an. Die Funktionsfähigkeit des Modells prüfen sie mit Testdaten. Hinzu kommt das Integrieren vorgefertigter KI-Services, wie Chatbots oder Services aus dem Bereich des maschinellen Lernens. Auf diese Weise entstehen Systeme, die fit sind für aktuelle und zukünftige Anforderungen.

Den Verantwortlichen sollte klar sein, dass bei datengetriebenen Anwendungen der Entwicklungs- auch ein Entdeckungsprozess ist. Mit dieser Offenheit im Kopf und einem planvollen Vorgehen in der Tasche ist der Weg in Richtung KI-Zukunft einfacher zu gehen. Alles Technologiewissen ist aber nichts wert ohne die Fähigkeit, es in die Alltagswelt der eigenen Beschäftigten und Kunden zu übersetzen. Neue Prozesse, Angebote und Services kann nur der entwickeln, der Branche und Mitarbeitende versteht.

Genau jetzt sollten sich die Verantwortlichen mit den Möglichkeiten von KI auseinandersetzen: Die Technologie ist reif, die ersten Projekte laufen, die Bereitschaft aufseiten der Kunden ist da. So legen Unternehmen den Grundstein für den erfolgreichen Einsatz der Technologie in den nächsten Jahren. Und damit für ihren Vorsprung vor dem Wettbewerb. //

Informationen und Kontakt zum Autor

Aufmacherbild / Quelle / Lizenz
Bild von Gerd Altmann auf Pixabay